Die Kinder- und Jugendhilfe wird inklusiver und ist zukünftig für alle Kinder und ihre Erziehungsberechtigten da.
Mit dem neuen Kinder- und Jugendstärkungsgesetz, das am 10. Juli 2021 in Kraft getreten ist, wird die Kinder- und Jugendhilfe inklusiver und Ansprechpartner für alle Kinder, mit oder ohne Behinderung. „Acht Jahre dauerte die Aushandlung dieses Gesetzes, das endlich das Menschenrecht auf Inklusion in der Kinder- und Jugendhilfe regelt“, freut sich Silvio Gödickmeier, Geschäftsführer von Startklar Oberbayern am Fachtag „Einfach machen – Wie gelingt Inklusion in der Kinder- und Jugendhilfe“, der am 15. Oktober 2021 in der Lokwelt Freilassing stattgefunden hat.
Über 120 Teilnehmer*innen kamen zur Veranstaltung von Startklar Oberbayern und Jonathan Soziale Arbeit, darunter auch der Freilassinger Bürgermeister Markus Hiebl. Dieser betonte, dass in einer inklusiven Gesellschaft keiner „außen vor gelassen werden darf, weil er vielleicht nicht ins Raster passt.“ Darum forderte er vor allem auch bei den Kindern und Jugendlichen anzupacken, damit wir in den Schulen und Kindergärten Offenheit vermitteln, die der Grundstein für gelingende Inklusion ist.
Bei der anschließenden Podiumsdiskussion, bei der Eltern
von Kindern mit Behinderungen zu Wort kamen, zeigte sich dann auch
deutlich, dass es an Offenheit vielfach noch mangelt. Eine Teilnehmerin
berichtete über den oft steinigen Weg ihres heute 13-jährigen Sohnes mit
geistiger Behinderung bei der Überführung von der Grundschule in die
Mittelschule, die er aktuell besucht. Sie forderte, eine inklusive
Haltung in der Gesellschaft und Möglichkeiten, dass sich Kinder mit und ohne
Behinderung begegnen können. Ihr Sohn habe durch den Kontakt mit
Kindern ohne Behinderung viel gelernt und bewege sich selbstständig in
Alltagssituationen. Ein weiterer Teilnehmer, Vater eines vierjährigen Sohnes mit
einer Entwicklungsverzögerung, erzählte von den Schwierigkeiten einen
Inklusionsplatz in einem Kindergarten auf dem Land zu finden. Er
forderte Fachkräfte und Gesellschaft auf, nicht die Kinder in das bestehende
System zu pressen, sondern das System so zu gestalten, das Teilhabe für alle
möglich sei. Auf seinen Fall bezogen warb er dafür, dass
Individualbegleitungen und Heilpädagog*innen nicht nur mit dem Kind mit
Behinderung arbeiten, sondern dass alle Kinder der Kindergarten-Gruppe mit
einbezogen werden. So kann Gemeinsamkeit entstehen und Inklusion gelingen. Die
dritte Teilnehmerin, deren 17-jährige Tochter unter schweren Depressionen und
Ängsten leidet, schilderte, wie schwierig es war, überhaupt Hilfe und
Unterstützung zu finden und das Recht der jungen Frau auf Teilhabe am ersten
Arbeitsmarkt durchzusetzen. Sie wünscht sich eine bessere Vernetzung und
frühzeitige Beratung auch durch Kinderärzte.
Alle Teilnehmer*innen des Podiumsgesprächs waren sich einig, dass es
Veränderungen im Bildungssystem braucht, da individuelle
Förderungen durch beispielsweise Schulbegleitungen immer auch stigmatisierend
seien. Wichtig wäre es, interdisziplinäre Teams an Schulen und
Kindergärten einzurichten, die für alle Kinder da sind und sich nicht nur auf ein
Kind mit Behinderung fokussieren. Um diese neuen Herausforderungen zu meistern,
müsse aber auch die Lehrer- und Erzieherausbildung weiterentwickelt werden.
Inklusion ist kein Fitnessprogramm für Menschen mit Behinderung
Aus dem
Blickwinkel der Kinder- und Jugendhilfe beleuchtete Dr. Mike Seckinger
vom Deutschen Jugendinstitut das neue Kinder- und
Jugendstärkungsgesetz. In seinem Vortrag betonte er, dass Inklusion ein
Menschenrecht ist, das erstmal keinem System zuzuordnen ist. Der Staat
ist verpflichtet Barrieren abzubauen, und die Kinder- und Jugendhilfe muss
dementsprechend inklusive Maßnahmen anbieten und umsetzen sowie notwendige
Anschlusshilfen in Gang bringen. „Einfach machen“ ist daher ein durchaus
angebrachter Titel des Fachtages, denn es bedeutet den Mut zu haben, etwas
auszuprobieren, was allemal besser ist als nichts zu tun.
Der Experte für
Kinder- und Jugendhilfe betonte in seinem Referat, dass es bei Inklusion nicht
darum geht, Menschen immer weiter zu optimieren, sondern das System so zu
ändern, dass alle an allem teilhaben können, wenn sie das wollen. Unsere
Unterstützungssysteme müssen daraufhin überprüft werden, ob bzw. wie sie als
eine Barriere der Teilhabe wirken. Dazu kommt, dass es der Kinder- und
Jugendhilfe schwer fällt in Zwischenräumen – also über das eigene System hinaus
– zu denken.
In Deutschland gibt es immer noch sehr
viele stationäre Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, für die eine
körperliche Behinderung ein Ausschlusskriterium für die Aufnahme sei, so
Seckinger. Er vermute, dass diese ablehnende Haltung viel mit Berührungsängsten
und der Angst vor Verantwortung zu tun habe Inklusion ist daher die
Verantwortung alle Barrieren abzubauen.
Er forderte die Kinder- und Jugendhilfe auf ihre Stimme
zu erheben, sich einzumischen und politisch mitzudiskutieren, wenn Inklusion
untergraben werde.
Inklusion ist kein Fitnessprogramm für Menschen
mit Behinderung, sondern ein Dreiklang aus Erwerbsarbeit, politischen
und sozialen Bürgerrechten und der Einbindung in soziale Nahebeziehungen, so der
erfahrene Psychologe. Er forderte, dass wir gemeinsam darüber nachdenken müssen,
was wir gesellschaftlich verändern wollen, um diese Bedingungen zu erfüllen. Wir
müssen raus aus der Personenzentriertheit, bei der wir den Menschen mit
Behinderung zum Problem machen, hin zu einer Gesellschaftsorientierung.
Den ganzen Vortrag können Sie hier herunterladen!
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Systeme zusammenführen/Netzwerke ausbauen
Matthias Kunz, Jugendamtsleiter im Berchtesgadener Land, würdigte den Fachtag und betonte wie wichtig es sei, den Dialog zwischen den Akteuren der Eingliederungs- sowie Kinder- und Jugendhilfe und den Betroffenen zu starten. Er bedankte sich bei Startklar/Jonathan dafür, dieses Thema in einem Fachtag aufzugreifen. Er wies auf die bereits bestehenden Maßnahmen – wie beispielsweise die Arbeit der Schulbegleitungen, die Frühförderung sowie die bereits gute Vernetzung der verschiedenen Akteuren – hin, die im Berchtesgadener Land bereits einfach gemacht werden, um Teilhabe zu schaffen. Dennoch bestehen aus seiner Sicht auch noch Hindernisse bzw. Herausforderungen, die angegangen werden müssen wie beispielsweise die Weiterbildung der Mitarbeiter*innen, die Neustrukturierung der Fachbereiche und der Ausbau des Netzwerkes um beispielsweise Krankenkassen und Kliniken. Kunz warb dafür, Chancen zu nutzen und die verschiedenen Systeme der Eingliederungs- und Kinder- und Jugendhilfe zusammenzuführen.
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Bettina Britze, Arbeitsgebietsleitung Regionalkoordination für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene beim Bezirk Oberbayern, informierte über die Zuständigkeiten des Bezirks als Träger der Eingliederungshilfe wie z. B. Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleiben und an Bildung sowie Leistungen für soziale Teilhabe. Sie wies auf die unterschiedlichen Systeme hin und warb dafür, die Jugendhilfe- und Sozialplanung zügig noch besser zu verzahnen und die Zuständigkeiten zu regeln.
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Nach einer kurzen
Pause, die Onur Bakis mit Mädchen und Jungen von Doyobe e.V. in
Freilassing gestaltete, fanden am Nachmittag mehrere Workshops aus verschiedenen
Arbeitsfeldern der Kinder- und Jugendhilfe statt, in denen deutlich wurde, dass
bereits viel „einfach gemacht“ wird.
Aus München war Nico Wunderle
vom Bayerischen Jugendring angereist, um mit den Teilnehmer*innen Wege
zu diskutieren, wie Inklusion in der offenen Jugendarbeit gelingen kann.
Maiken Liß, Leitung Sozialräumliche Angebote von alsterdorf assistenz
ost gGmbH aus Hamburg, gab Impulse wie sich Eingliederungshilfe und
Kinder- und Jugendhilfe verknüpfen lassen, um flexible Angebote zu entwickeln.
Monika Sommerer, Regionalleitung beim Amt für Kinder, Jugend und Familie
der Stadt Rosenheim, machte sich gemeinsam mit Lea Mutzbauer, Regionalleitung
bei Startklar Soziale Arbeit in der Stadt Rosenheim, mit den
Teilnehmer*innen auf den Weg neue Formen der Eingliederungshilfen an Rosenheimer
Schulen zu diskutieren. Beim vierten und letzten Workshop gab Cornelia Tolks vom
Kindergarten Sonnenschein in
Freilassing Impulse für die Inklusionsbegleitung in der Kita.
Fazit: Als freier Träger der Kinder- und Jugendhilfe ist unser Auftrag
klar. Wir werden in unseren Angeboten Selbstbestimmung und Teilhabe aller Kinder
und Jugendlichen in den Mittelpunkt stellen. Das wird nicht alles auf einmal
gelingen, aber wir werden Schritt für Schritt vorangehen und einfach
machen!